„Nach drei Wochen Aufenthalt in der Türkei begannen wir, unser Heim in Deutschland zu vermissen. Dann merkten wir, dass wir hier hingehören – nicht mehr in die Türkei! “
Ali Rıza Sevimli lebt seit 1972 in Deutschland
Ich wurde 1954 in Maraş, Sırmalı geboren.
Mein Vater arbeitete als Förster.
Nachdem ich die ersten Schuljahre in Maraş verbracht hatte, lebte ich später bei meinen Verwandten in Adana, wo ich die Realschule beendete. Anschließend studierte ich Wirtschaft. Parallel zum Studium arbeitete ich bei einer Ziegelfabrik, um meinen Unterhalt zu finanzieren. Eines Tages wurde ich jedoch entlassen. Durch die Arbeitslosigkeit musste ich mein Studium abbrechen.
Ich entschied mich dafür nach Deutschland zu gehen. Mit all meinen Ersparnissen machte ich mich 1972 auf den Weg nach Deutschland und kam in Delmenhorst an. Den ersten Tag in Deutschland habe ich nie vergessen. Es war sehr neblig, dunkel und kalt, was mich sehr traurig machte. Als ich eines Tages Bekannte besuchte, hörte ich Musik von dem berühmten Volkssänger Aşık Mahsuni Şerif. In diesem Moment spürte ich die Nähe zu meiner Heimat, zur Türkei.
Als ich nach Deutschland kam, herrschte eine große Arbeitskrise. Die ersten Türken mussten in ihr Heimatland zurückkehren, da ihre Arbeitsverträge nach zwei Jahren ausgelaufen waren.
Ich jedoch fand eine Anstellung in einer Hähnchenfabrik. Nach einer gewissen Zeit bemerkten die Kollegen, dass ich einen besseren Lohn bekam. Daraufhin beschlossen wir, dagegen anzugehen und gleichen Lohn für alle zu fordern. Unser Streik endete erfolgreich, sodass die Löhne angeglichen wurden. Neben meiner Arbeit fing ich mit dem Studium an. Nachts arbeitete ich, tagsüber studierte ich, was mir sehr schwer fiel. Das bemerkte auch mein Professor, der mich ermahnte und aufforderte mich mehr zu konzentrieren. Ich beschloss, das Studium abzubrechen und nur noch zu arbeiten.
Im Jahr 1973 heiratete ich und bekam drei Kinder.
Von 1976 bis 1978 arbeitete ich in Osnabrück bei einem Autohersteller. Danach wechselte ich zu Klöckner. Dort arbeitete ich 35 Jahre lang bis zu meiner Rente. Bei Klöckner kannte ich fast alle türkischstämmigen Mitarbeiter der ersten Generation. Da wir uns nur auf unserer Muttersprache Türkisch unterhielten, fiel es uns sehr schwer, uns die deutsche Sprache anzueignen. Viele lernten nur durch ihre Kinder Deutsch. Wir hatten nur mit einem Deutschen Kontakt, und zwar mit unserem Meister auf der Arbeit. Außer ihm kannten wir keine Deutschen.
Den Menschen, die nach Deutschland kamen, ging es in der Türkei finanziell nicht gut. Sie reisten mit dem Ziel hierher, ein paar Jahre zu arbeiten, Geld zu verdienen und mit den Ersparnissen ihre Träume in der Türkei zu verwirklichen. Einige hatten die Vorstellung vom eigenen Haus, andere wollten Geld für einen Traktor sparen. Wir alle schoben den Gedanken, für immer in die Türkei zurückzukehren, erst einmal beiseite. Viele meiner Bekannten Leben inzwischen nicht mehr oder sie sind mittlerweile in Rente gegangen. Einige meiner Kollegen, die bei Klöckner arbeiteten, sind durch die die Asbest-Belastung ihres Körpers gestorben. Auch ich werde seit zwei Jahren wegen der gesundheitsschädlichen Folgen des Asbests behandelt. Die ersten zehn Jahre in Deutschland waren sehr schwierig für mich. Ich vermisste meine Familie und mein Dorf. Mein Körper war hier, meine Gedanken in der Türkei. Die Sehnsucht nach meinen Eltern hinderte mich daran, mein Leben hier zu genießen, womit ich erst nach dem Tod meines Vaters begann.
Heute denke ich auch nicht mehr daran zurückzukehren.
In der Türkei machen wir nur noch Urlaub. Nach drei Wochen aber vermissen wir unser Zuhause in Deutschland. Dann bemerken wir, dass wir hier hingehören – nicht mehr in die Türkei!
Wenn ich heute zurückblicke, bereue ich sehr, dass ich mein Studium nicht beendet habe. Trotzdem bilde ich mich weiter. Mein Interesse an Literatur ist geblieben. Über all die Jahre habe ich viele Gedichte geschrieben, die ich eines Tages als Buch veröffentlichen möchte.
Zeitlebens setzte ich mich für Frieden, Liebe und Brüderlichkeit und gegen ethnische, sprachliche und religiöse Diskriminierungen ein. Solange ich lebe, werde ich mein Handeln nach diesen humanistischen Werten ausrichten.