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Interview mit Dr. Etem Ete

Dr. Etem Ete (c) ZIS

Ja, viele Menschen haben Angst freie Individuen zu sein. In Gefangenschaften fühlt man sich sicherer. Ist aber nicht nur bei vielen Türken so. Es ist weltweit.

Das Gespräch mit Dr. Etem Ete wurde im April 2011 in Hamburg geführt.

Dr. Etem Ete, 2017 Bremen
(© ZIS)

Dr. Etem Ete wurde 1943 in Istanbul geboren. In Istanbul schloss er die Schule 1961 mit dem Abitur ab, ein Jahr später begann er sein Medizinstudium in Kiel. Im Jahr 1965 zog er nach München, um sein Studium zu beenden und schloss 1970/71 das Staatsexamen an. Darauf folgte eine fünfjährige Tätigkeit an Krankenhäusern in München und ganz Bayern.

Professor Muhlis Ete, Etem Etes Vater, besetzte zweimal den Posten des Wirtschafts- und Handelsministers in der Türkei (1950 – 1952, 1962 – 1963). Die Flucht deutscher Akademiker und Akademikerinnen vor den Nationalsozialisten in die Türkei erlebte der Vater selbst mit, was den jungen Etem Ete nachhaltig prägen sollte.

Der Liebe wegen zog Etem Ete 1962 nach Deutschland und wurde so Zeuge der Arbeitsmigration zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Mehr als 30 Jahre lang arbeitete er als Arzt und Psychiater, spezialisiert auf Migrationspsychatrie und transkulturelle Psychiatrie.

Seit 2005 befindet sich Etem Ete im Ruhestand und lebt in Hamburg. Istanbul bezeichnet er als „seine Mutter“, die Stadt an der Elbe als „seine Partnerin“.

 

Anna Müller:  Herr Dr. Ete, erzählen Sie doch erst einmal etwas zu ihrer Person.

Dr. Ete: Also, am 30. Juli wird es genau 50 Jahre sein, dass ich nach Deutschland gekommen bin. Ich bin in der Türkei in Istanbul aufgewachsen und hab´ 1961 Abitur gemacht und im selben Jahr wurde mein Vater von Ludwig Erhard damit beauftragt, einen Wirtschaftsbericht, bzw. ein Gutachten über die zukünftigen Beitrittskandidaten Türkei, Spanien und Griechenland zu schreiben, und kam Anfang des Jahres nach Kiel und war da Gastprofessor im Institut für Weltwirtschaft.

Meine Mutter war mit mir in der Türkei, und als ich dann mit genau 18 Jahren Abitur gemacht habe, ging ich mit ihr nach Kiel. Eigentlich wollte ich nur meine Deutschkenntnisse aufbessern und Urlaub machen und danach wieder zurück (ich wollte Staatswissenschaften studieren). Aber es lief alles anders, als ich es mir vorgestellt habe und so entschied ich mich, in Kiel zu bleiben.

Aber mein Vater war erst nicht damit einverstanden, dass ich dort studiere, dabei war es eigentlich günstiger für eine türkische Familie ein Studium in Deutschland zu finanzieren als in der Türkei (weil eine DM 2,20 Lira war). Meine Eltern sind dann zurück gefahren, und ich bin in Kiel geblieben und nahm dann 1962 das Studium der Medizin auf.

Kiel war meine erste Liebe in Deutschland, aber ich kannte Deutschland schon von früheren Jahren. Mein Vater war nämlich der Delegationsleiter des türkischen Parlaments im Straßburger Europarat, der damals zweimal jährlich tagte, und er hat damals meine Mutter und mich immer mitgenommen.

Mit 11 Jahren war ich das erste Mal in Deutschland, aber ich kannte süddeutsche Städte besser (München, Stuttgart) und diese Städte waren fast zu 50% durch die Bombardierung während des Krieges zerstört. Ich sah arme Frauen, die Zigarettenreste suchten und Mülleimer nach etwas Brauchbarem durchsuchten.

Ja, in den 60iger Jahren war es anders: Ich konnte ein bisschen Deutsch, weil meine Eltern hervorragend Deutsch konnten. Mein Vater besuchte von 1920 bis 1925 in Weimar das Gymnasium und danach von 1925 bis 1930 studierte er in Leipzig Volkswirtschaft und meine Mutter ging in Breslau in die Mittelschule. Sie konnten Deutsch genauso gut wie Türkisch und deshalb habe ich mit den beiden nie Deutsch gesprochen, weil die sofort Grammatikfehler entdeckten und so macht’s ja keinen Spaß. Also, ich sprach schon ein bisschen Deutsch. Und wenn nicht, bin ich in den ersten Jahren dank meiner guten Englischkenntnisse weitergekommen. Aber ich hab mich nie als Ausländer gefühlt. Ich war kein Migrant, ich war kein Ausländer, ich kannte Deutschland ja bereits.

Ich wurde schon öfters bei verschiedenen Podiumsdiskussionen gefragt, ob ich mich als Europäer fühle. Die Frage hat mich geärgert, dann habe ich immer gekontert: „Wissen Sie, ich bin im deutschen Krankenhaus in Istanbul und zwar auf der europäischen Seite geboren, somit ist die europäische Kultur bei mir angeboren. Stellen Sie andere Fragen!“

Nach zweieinhalb Jahren in Kiel (1962/63) habe ich in Erlangen studiert und dann bin ich 1965 nach München umgesattelt, habe dort das klinische Studium zu Ende gebracht und 1970/71 das Staatsexamen gemacht. Dann habe ich fünf Jahre in den Münchener und bayerischen Krankenhäusern gearbeitet (vorwiegend in München, aber auch in Augsburg, Kaufbeuren etc.), bis ich Probleme mit dem bayrischen Innenministerium bekam, denn ich galt als ein gefährlicher Ausländer, weil ich bei den Ostermärschen und bei Studentenbewegungen teilgenommen habe. Das hat die bayerischen Behörden sehr geärgert. Sie haben gerade so ein Auge zugedrückt und mich meine Facharztausbildung weitermachen lassen, aber dann haben sie mir immer wieder Sperren in den Weg gestellt: Ich durfte nicht in München arbeiten, nicht in Großstädten, nicht in den Unikliniken, nicht in Zentralkrankenhäusern, sondern nur dort, wo keine deutschen Ärzte hingehen. Und wenn man gerade in der Facharztausbildung steht, braucht man gute Kliniken um später ein guter Arzt zu werden. Schließlich wurde ich Facharzt für Psychiatrie.

Dann musste ich von Bayern Abschied nehmen, ich hab keine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Gottseidank gibt’s es auch ein innerdeutsches Asyl. So hab ich vom schwarzen Süden in den rosaroten Norden gewechselt. Man hat mir empfohlen entweder nach Berlin, nach Hamburg oder nach Bremen zu gehen. Und so bin ich in Hamburg gelandet. Und der damalige Oberbürgermeister Hans Ulrich Klose hat mir sehr geholfen, als ich ihm mein Anliegen erzählte. Zuerst Duldung, dann für ein Jahr, dann für zwei, dann für fünf Jahre Aufenthaltsgenehmigung.

Ich hab dann hier in Hamburg im Nervenkrankenhaus gearbeitet. Nach sechsjähriger Krankenhaustätigkeit habe ich mich niedergelassen und eine Praxis aufgemacht. 18 Jahre lang habe ich als niedergelassener Psychiater gearbeitet. Ich war Gerichtsgutachter, ich war als Gastdozent tätig und habe an Versammlungen und an Symposien teilgenommen. Bis ich 2005 in Rente gegangen bin und damit bin ich sehr glücklich.

Ali Eliş: Wir würden gerne über Ihren Vater mehr erfahren. Er war im Parlament, er hatte einen Professortitel und hat später als Minister gearbeitet. Das ist wichtig für die Arbeitsmigration aus der Türkei. Vielleicht können Sie das noch erläutern?

Dr. Ete: Etwa 1915 hat er eine österreichische Mittelschule in Istanbul besucht. Er wollte weiter auf Deutsch lernen, aber da es kein Gymnasium gab, hat ihn sein Vater nach Deutschland geschickt. Er hat dann in Weimar das Gymnasium besucht und Abitur gemacht und dann in Leipzig Volkswirtschaft studiert und da auch promoviert als Dr. der Volkswirtschaft.

1930 ist er nach Istanbul zurückgekehrt. 1933 hat er mit einem Professor Schwarz aus der Schweiz, einem Juristen einen Verein gegründet mit dem Ziel, die gefährdeten deutschen Wissenschaftler, die während dieser unruhigen Zeit eine andere Heimat suchten, nach Istanbul einzuladen. Einzige Bedingung war innerhalb eines Jahres Türkisch zu lernen. Daraufhin wurden viele neue Fakultäten in Istanbul gegründet, auch wenn viele Wissenschaftler nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehrten.

Mein Vater war gleichzeitig bei drei Professoren Assistent (Hirsch, Köpke, Neumark). praktisch Assistent und Dolmetscher zugleich. Diese namenhaften Professoren haben bei dem Aufbau der türkischen Universitäten mitgewirkt. Sie waren die ersten Lehrkräfte. Nach ’33 ging’s aufwärts. Er wurde dann nach Ankara versetzt zur sozialwissenschaftlichen Fakultät (Mekteb-i Mülkiye).

1950 kam es zur ersten demokratischen Wahl in der Türkei und man hat ihn überzeugt, bei der damals neugegründeten liberalen demokratischen Partei Mitglied zu werden. Er wurde der erste Wirtschaftsminister von Menderes‘ Regierung. Nach fünf Jahren ist er wieder ausgetreten aus dieser Partei.

Prof. Ludwig Erhard, mit dem er schon immer befreundet war, lud ihn nach Deutschland ein und bat ihn in Kiel als Gastprofessor tätig zu werden. 1957 als der erste Bundespräsident Theodor Heuss die Türkei besuchte, wurde mein Vater mit dem Bundesverdienstkreuz honoriert. Er war 30 Jahre lang Präsident des deutschtürkischen Kulturbeirates in der Türkei. Dann wurde er wiederrum zum Wirtschaftsminister ernannt, diesmal bei der sozialdemokratischen Volkspartei unter İnönü (1962/63). Bis er 1965 dann ganz aufgehört hat wegen seiner Krankheit.

Ali Eliş:  Er hat ja mitgewirkt, war Initiator und hat das Abkommen für die Arbeitsmigration vorbereitet.

Dr. Ete: Ja, dank der Freundschaft zu Ludwig Erhard. Nicht nur das erste wirtschaftliche Abkommen 1951, sondern auch das Abkommen für Arbeitsmigration 1961 wurde von ihm eingeleitet.

Ali Eliş:  Türkische Arbeitsmigranten sind ja muslimisch geprägt, hatte man da Bedenken von der deutschen Seite?

Dr. Ete: Nein, man hat ja damals nicht langfristig gedacht. Die deutsche Industrie brauchte dringend Fach- und Hilfsarbeiter und die Türkei hatte ja einen Überfluss. Die Arbeitsmigranten wollten sich in erster Linie beruflich weiterentwickeln und vertiefen und dabei viel Geld verdienen und natürlich sparen. Viele beabsichtigten eine Aufenthaltsdauer von ca. 5 Jahren. Langfristige Pläne hat man nicht gemacht. Aber 1968 waren es bereits eine Viertelmillion. Als es Ende ’73 zum Anwerbestopp kam, da waren schon eine Millionen Menschen hier, da soll man nicht meinen. Seither sind nur wenige in die Heimat zurückgekehrt.

Ali Eliş:  Ihr Vater hat quasi die ganzen Vorbereitungen gemacht und die Abkommen zwischen den beiden Ländern vorbereitet und 1961 diese Arbeitsvereinbarungen getroffen.

Dr. Ete: Das war die erste Stufe. Und dann war er auch der geistige Vater des türkischen Beitritts in die EWG. Und interessanter Weise ist die CDU heute gegen den Beitritt der Türkei, aber es war die Idee der eigentlichen Väter der CDU (Adenauer, Erhard), denn man hat nie gedacht, dass sich der Ostblock auflöst. Und das wären sechs plus England, Skandinavien, die sowie irgendwann beitreten würden. Und von den peripheren Ländern blieben ja nur Spanien, Griechenland und die Türkei übrig. Wobei in den ’60iger Jahren herrschten Diktatoren in Spanien und Griechenland, nur in der Türkei herrschten  eher demokratische Verhältnisse. Aber im Nachhinein, wenn man es so betrachtet, die sind schon feste Mitglieder der Europäischen Union und die Türkei wartet immer noch draußen vor der Tür. Es ist sehr makaber.

Anna Müller:  Haben Sie je überlegt, zurück in die Türkei zu gehen?

Dr. Ete: Zweimal. Einmal 1971 als meine Eltern noch lebten. Ich war ein junger Arzt und dachte, ein zwei Jahre arbeite ich noch, warte bis zu den Olympischen Spielen 1972 in München und danach kehre ich zurück. Als es soweit war, kam es aber zu dem Militär-Putsch in der Türkei. Dann wartete ich erst mal ab und lebte 1980 für ein halbes Jahr in Istanbul und habe da auch gearbeitet, und dann hat man von einem zweiten Putsch gehört und ich bin rechtzeitig wieder abgehauen.

Wenn ich von Integrationsproblemen spreche, dann gelten die eher in der Türkei als hier. In der Türkei fühle ich mich wie ein Tourist, der die Landessprache perfekt beherrscht, dazu die Tradition und die Kultur. Manchmal fragen mich meine Freunde, fühlst du dich als Deutscher oder als Türke, dann sage ich, dass ich mich wie eine gespaltene Persönlichkeit fühle. Also im Denken, im sozialen Leben, in der Arbeitsweise, im Freizeitverhalten bin ich eher wie ein Norddeutscher, aber mit meinen Gefühlen, mit meiner Mentalität, Emotionen da bleibe ich eher wie ein Türke. Aber Türke ist eher ein grober Begriff, z.B. fühle ich mich eher als Kosmopolit, Istanbuler, Mittelmeermensch. Ich bin seit drei Generationen Istanbuler. Ich bin also Hanseat und Istanbuler. Also, ein Mischling im Gefühlsleben. Ich träume auch halb auf Deutsch und auf Türkisch.

Anna Müller:  Wie sah es anfangs mit der Integration aus in ihrem Studium und Beruf?

Dr. Ete: Ich habe keine Probleme mit der Integration gehabt. Erstens, Deutschland war ja damals verliebt in Ausländer, z.B. meine ersten Weihnachten, ich war im Studentenheim, wo viele ausländische Studenten wohnten, wir waren insgesamt fünf türkische Studenten. Ich persönlich wurde von 19 deutschen Familien zu Weihnachten zu ihnen Nachhause eingeladen.

Ausländer zu sein war nicht nachteilig, aber auch dann hab ich mich nicht als Ausländer gefühlt, als Migrant überhaupt nicht, als Fremder auch nicht. Einfach, wie wenn Sie von Bremen nach Stuttgart reisen. Ok, ein bisschen muss man sich an die Umgebung gewöhnen. Als meine Eltern und Großeltern noch lebten, zog das einen natürlich zurück zur Herkunft. Eigentumsverhältnisse binden auch, eine glückliche Kindheit, dann ist man schon ein Gefangener seiner nostalgischen Kindheit, dann muss ich immer wieder nach Istanbul, zu den Prinzeninseln, ich muss unbedingt ein Besiktas-Spiel da angucken. Aber zwischen zeitlich hat sich die Heimat dort ziemlich verkleinert, also Bosporus, Prinzeninseln, Istanbul-Altstadt, -Mitte, Pera und so, aber Konya oder Yozgat zieht mich nicht an. In einem bestimmten Alter ist man froh, wenn es klimatisch angenehm kühl ist. Hamburg ist mir sogar manchmal zu warm. Ich bin ein echter Nordeuropäer.

Anna Müller:  Haben Sie Ablehnung aus ihrem deutschen Kollegenkreis erfahren?

Dr. Ete: Nein, aber so eine diskrete Diskriminierung habe ich latent schon immer gespürt. Z.B. obwohl ich mich in meiner Fachrichtung sehr gut ausgebildet habe, habe ich nie die geringste Chance gehabt, an einer Uni weitere Karriere zu machen, dann muss man besondere Beziehungen haben, besondere Parteibücher haben und so. An jeder Uni gibt es Positionskämpfe und da kann man leicht zerrieben werden, deshalb: eine akademische Ausbildung kam für mich leider nie in Frage.

Und oft habe ich mich darüber geärgert, dass ich weniger als Arzt/ Psychiater, sondern mehr als Türke wahrgenommen werde, obwohl ich auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitze. So habe ich öfters Überweisungen von deutschen Kollegen bekommen, auf denen stand „Überweisung zu dem Türkenarzt“. Ich habe diese zurückgeschickt wegen Falschadressierung. Ich wusste auch noch nicht, dass es eine Türkenmedizin gibt. Dann haben sich solche Kollegen entschuldigt.

Oder in vielen Symposien und Vorträgen heißt es: Erzählen Sei doch einmal ganz kurz, wie wir mit unseren türkischen Patienten umgehen können. Andere Symptomatik, andere Krankheit, das hat sie ziemlich irritiert. In der Psychiatrie ist das aber nicht so einfach, da kommt nicht nur der Patient, da kommt ein Mensch mit allen seinen sozialen Problemen und diese Probleme sind teils migrationsbedingt, teils mentalitätsbedingt, teils durch fehlgeschlagene Integration. Aber immer auf seine Erfahrung mit den Türken abgestuft zu werden, das tut weh, weil man nicht in seinen Kapazitäten und Kenntnissen geschätzt wird, sondern nur weil man Türke ist.

Oder dass die türkischen Kollegen als Dolmetscher ausgenutzt werden im Krankenhaus. Das hab´ ich gerne getan, fachlich, kollegial, aber allmählich: ich bekomme dafür ja nur ein Assistentengehalt, aber soll vier Stunden täglich Dolmetscherarbeit leisten. Irgendwann hab ich gesagt, Sie sollen doch einen Dolmetscher einstellen, ich bin ja hier am Krankenhaus nicht als Dolmetscher tätig.

Manche Sachen haben mir schon wehgetan, aber ansonsten ich bin ja wortgewand und bin auch in der deutschen Kultur ausgeprägt und bei unpassenden Fragen kann ich ebenfalls gut kontern. Für mich ist die einzige Hölle, die ich in der Bundesrepublik erlebt habe, die Ausländerämter, vor allem die bayerischen, ansonsten habe ich mit den Menschen, mit den Kollegen, den Patienten keine Probleme, aber diese Ausländergesetze sind im Grunde nichts anderes als Abwehrgesetze, um die Ausländer abzuwehren. Und als Arzt war es zehnmal schwerer eine Arbeits-und Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen als ein einfacher Arbeiter. Denn wir müssen ja von der Behörde die Aufenthaltsgenehmigung einholen, und die berufliche Genehmigung kriegen wir von den Innenbehörden der einzelnen Länder. So kann der Beamte sagen: „Nein wir brauchen hier keine Ärzte, Sie können wieder zurück.“ Und immer mit der Angst zu leben ist kein sicheres und schönes Gefühl.

Lange Zeit stand auf meinem Pass: Dr. Ete übt seine Tätigkeit NUR in dem Krankenhaus so und so aus und ansonsten ist es ihm untersagt, seine Tätigkeit auszuüben, aber andererseits haben wir den Eid des Hippokrates, der besagt, dass wir Menschen überall helfen müssen, wo sie unsere Hilfe brauchen.

Ali Eliş:  Obwohl Sie ihre Ausbildung in Deutschland gemacht haben?

Dr. Ete: Ja, ich hab´ ja nur hier gelebt. Den gefährlichen Ausländer unter dem Daumen halten. Vieleicht ist es jetzt nicht mehr so, aber damals war es so. Vor allem in Bayern. Es ist auch ein großer Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschland.

Ali Eliş:  Also, Norddeutschland ist in der Hinsicht liberaler?

Anna Müller: Gehen Sie doch jetzt etwas näher auf die gesundheitliche Situation der älteren Migranten ein.

Dr. Ete: Ja, die sind alle Schrott, so bezeichnen sie sich. Das Wort Schrott ist sehr beliebt unter den Türken.

Anna Müller:  Haben sie andere Krankheiten, andere Symptome?

Dr. Ete: Andere Krankheiten nicht, aber ihr Leben ist anders. Der Türke erlebt die Krankheit als Ganzes. Wenn das Auto einen Maschinenschaden hat, dann ist das Auto defekt. Und wenn der Mensch krank ist, dann ist er defekt, dann kann er nicht mehr arbeiten, dann ist er „Schrott“, dann muss man ihm als Schadensersatz eine „EU-Rente“ gewähren. Krank sein ist was anderes, sich krank fühlen ist wieder was anderes, krank sein und arbeiten ist noch was anderes. Ich hab´ seit 30 Jahren Diabetes, aber ich fühle mich nicht als Kranker, das ist meine Begleiterin, die Zuckerkrankheit. Ich hab´ trotz meiner Krankheit 30 Jahre gearbeitet und wenn ich gefragt werde, ob ich krank bin, sage ich nein. Nur in der Türkei sage ich, ich bin krank, ich darf nicht so viel essen, denn die Liebe wird dort gezeigt, indem sie Essen anbieten… Eine leidenschaftliche Verbundenheit zu dem Wort Sterben, Tod und so weiter. Ja, da haben sie ein paar Probleme. Man kann krank sein, aber man muss sich nicht krank fühlen oder man kann krank sein und trotzdem arbeiten, aber diese Differenzierung kommt nicht zustande. „Ich bin krank, ich bin kaputt, ich kann nicht arbeiten.“ So denken aber viele.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Ich hab neulich von einigen älteren Damen gehört, dass sie das aber überhaupt nicht gut finden, wenn sie zum Arzt gehen und ihre Krankheiten schildern oder ihre Symptome, und dann aber nicht ernst genommen werden, sondern die Ärzte immer sagen: „Naja, das ist sowieso alles psychosomatisch, ihr habt alle Heimweh“.

Dr. Ete: Das sind aber schon seit 40 Jahren bekannte Beschwerden und Geschichten. Dass sie nicht ernst genommen werden, das stimmt nicht, aber ein gesunder Dialog kommt nicht zustande. Erstens wegen der Sprache und dann natürlich wegen des Zeitmangels der Ärzte. Hier möchte man innerhalb von fünf Minuten alle Beschwerden erfahren und dann rasch mit Hilfe der Geräte eine Diagnose stellen.

Viele (auch viele deutsche Kollegen) interpretieren das falsch: „Ja, weil sie nicht Deutsch lernen, weil sie nicht integriert sind, werden sie krank.“ Nein! Durch fehlende Integration oder Diskriminierung werden diese Krankheiten nicht ausgelöst, sie leben sowieso in einer anderen Welt. Geographisch sind sie zwar in Deutschland, aber vom Leben her befinden sie sich in den alten Dörfern (in diesen Ghettos). Innerhalb der Ghettos gibt‘s wiederum verschiedene partielle Zonen, die von den Alewiten, die von den Sunniten, die von den Kurden, die von den Schwarzmeerländern und so. Jeder hat seine Sippschaften, seine Traditionen, Arten wie die Feste gefeiert werde, wie die Mädchen verheiratet werden…

Das eigentliche traurige Drama: Türken leben in Großfamilien, vor allem die, die vom Lande stammen, und irgendwann in der postmodernen deutschen Gesellschaft lösen sich diese Familienbeziehungen auf. Und das ist auch meistens der Grund, vor allem bei den Frauen, für Depressionen.

Öfters kamen Frauen Mitte 40 zu mir, schwer depressiv, weil ihre Kinder ausgezogen sind und selbstständig wohnen. Die verstehen nicht, dass ihre Kinder Individuen sind und ihr eigenes Leben leben wollen. Oder eine andere Frau war sehr unglücklich, weil die Tochter einen Deutschen geheiratet hat, er ist zwar ein netter Mann mit dem alles in Ordnung ist, aber er ist ja nicht beschnitten. Also, solche einfachen Sachen. Die Frauen sind nicht böse, haben auch keine Vorurteile, sondern es liegt eher am Zerfall der Großfamilie, das fängt meistens an mit dem Heiraten der Kinder, dann werden sie depressiv. Und dann kommt die zweite Tragödie: bis dahin hat der Mann die Frau immer vernachlässigt (vier Std. im Caféhaus) und durch die Geschehnisse mit den Kindern, fangen die Frauen an noch mehr zu jammern, so dass die Männer dann noch länger im Caféhaus sitzen.

Oder die Kinder, die mit zum Arzt kommen zum Übersetzen. Eine Frau wurde depressiv, weil ihre Kinder gesagt haben, dass sie nicht mehr mitkommen. So infantil, so liebevoll, man kann ihnen auch nicht böse werden. Ein gutes Heilmittel z.B., was ich gegen Depressionen empfehle: Spaziergänge an der freien Luft. Eine Frau meinte dazu: „Herr Dr., Sie kennen doch die Tradition, eine Frau darf das Haus nur verlassen, wenn der Mann sie mitnimmt oder es ihr erlaubt.“ Das ist aber keine Tradition, das ist vielleicht von einzelnen Ortschaften eine Tradition.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Das ist vielleicht eine Ausrede, dass sie sagen, mein Mann will das nicht.

Dr. Ete: Ja, viele Menschen haben Angst freie Individuen zu sein. In Gefangenschaften fühlt man sich sicherer. Ist aber nicht nur bei vielen Türken so. Es ist weltweit.

Anna Müller:Was sind denn spezielle Probleme von den türkischen Migranten gegenüber den Ärzten?

Dr. Ete: Der Arzt hat einen sehr guten Ruf unter den türkischen Patienten. Er ist der einzige Deutsche, er ist die Brücke zu der deutschen Gesellschaft. Sonst kennt man keinen Deutschen. Lesen und sich selber über ihre Krankheit informieren sind sie nicht gewohnt. Nette verbale Verbindungen manchen die Menschlichkeit aus bei ihnen.

Mich mochten sie sehr, weil ich mir fast bei jedem Patienten eine halbe bis dreiviertel Stunde Zeit genommen habe. Dass nicht jeder so viel Zeit opfern kann, können sie nicht verstehen. Und wie gesagt, sie haben ein anderes Verhältnis zum Krank- und Gesundsein, vieles können sie nicht differenzieren. Aber so sind sie ja alle nicht.

Inzwischen haben sich ja in Deutschland zwei verschiedene Gemeinden gebildet: Ein Drittel sind diese Eurotürken, die sind politisch progressiv, Atatürk-Anhänger und so. Sie empfinden Deutschland als ihre Heimat, die sind hier glücklich, sie fahren öfters mal in die Heimat, manche Rentner bleiben ein halbes Jahr da, leben ein halbes Jahr hier, ist eigentlich die beste Möglichkeit im hohen Alter.

Zwei Drittel leben immer noch sozial abgekapselt in sozialen Ghettos, die sind mehr so religiös, konservativ, nationalistisch eingestellt, und bei denen ist diese Problematik sehr viel größer.

Ali Eliş:  Ist das nicht ein Spiegelbild der Arbeitsmigration? 70 % sind ja vom Land gekommen.

Dr. Ete: Die zweite, dritte, vierte Generation hat nicht mal sprachliche Probleme. Sie haben eher die gleichen Probleme wie die deutsche Klientel.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Früher gab es in Bremen ja noch den alten türkischen Arbeiterverein, und das waren ja auch fast alles Leute, die vom Land kamen und keine besonderen Schulabschlüsse hatten, die waren aber politisch bewusster und haben sich hier auch anders durchgesetzt, und ihre Kinder haben auch ihre Schulen geschafft und viele von ihnen haben auch studiert. Und danach kamen dann irgendwie …. andere Menschen, habe ich so den Eindruck, die dann sehr unsicher waren…

Dr. Ete: Bei der ersten Welle 1961-68 haben die deutschen Arbeitsämter ihre Büros in verschieden Städten in der Türkei gehabt, die Arbeiter wurden ausgesucht. Viele waren so Berufsschulabsolventen oder Schlosser, Elektriker, Schweißer. Viele hatten einen Beruf und das spielt eine große Rolle. Erst mal sind sie diszipliniert, ein Berufstätiger hat eine Verantwortung, er muss pünktlich sein. Und die haben früher gemerkt, dass sie schnell Deutsch lernen müssen, das bringt ihnen was. Sie haben ihre Familien viel früher nach Deutschland als die anderen geholt. Diese Gastarbeiter der ersten Generation waren für mich die eigentlichen Helden und diese sind wirklich ausgebeutet worden. Die waren alle Facharbeiter, wurden aber vielmehr als Hilfsarbeiter bezahlt, obwohl sie als Facharbeiter gearbeitet haben. Sie haben nicht in den schönen Wohnheimen, sondern in den Aluminiumbaracken gewohnt, wo man sich zu 40 eine Toilette und zu 70 eine Küche teilen musste, und es waren Acht-Bett-Räume und dafür hat man 50 DM abgezogen, und das waren die sogenannten Unterkünfte, die von den Arbeitgebern organisiert wurden. Aber von diesen Menschen hören wir heute weniger.

Ali Eliş:  Wir haben 300 Leute dieser ersten Generation befragt. Wir haben festgestellt, dass 85% trotz alledem hier bleiben wollen.

Dr. Ete: Vor allem wegen den Krankheiten. In der Türkei muss man z.B. die Fachkliniken privat bezahlen, bei den städtischen gibt es lange Schlangen. Sie fühlen sich durch den Gesundheitssektor hier viel sicherer. Früher haben sie drei Monate hier und neun in der Türkei gelebt, und jetzt ist es umgekehrt, und sie sind wegen ihrer Krankheiten vorwiegend hier. Sie vermissen Deutschland natürlich auch sehr, wenn sie in der Heimat sind.

Ihre Kinder und Enkel leben alle in Deutschland, und das ist auch eine Sehnsucht. Dass die Familie getrennt ist, dulden sie nicht lange.

Von der ersten Welle sind alle bereit, ihr Rentenalter hier zu verbringen. Aber es sind nicht nur Gesundheitsfragen, es sind auch menschliche Fragen. Die Kinder sind ja hier, man hat seine soziale Umgebung hier.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Bei der Befragung haben auch 80% gesagt, wir haben sowohl in der Türkei als auch in Deutschland Freunde, also auch deutsche Freunde. 

Dr. Ete: Sie sind aber mehrheitlich von der ersten Generation und von dieser Ein-Drittel-Gesellschaft, von den sogenannten Eurotürken, viele die offener sind, seien sie Alewiten oder westlich Orientierten. Aber diese anderen Zweidrittel, die sieht man nicht. Die sieht weniger im öffentlichen Leben.

Ali Eliş:  Jetzt ist es so weit gekommen, dass man Lösungen finden muss. Die türkischen Migranten haben sehr schwer gearbeitet. Aber sie haben nicht wie die Deutschen 40 Jahre lang gearbeitet, Ausbildungszeiten fehlen und zudem sind viele nach 25 oder höchstens 30 Jahren krank geworden. Das heißt, sie haben weniger anrechnungsfähige Zeiten und bekommen deswegen weniger Rente. Im Durschnitt um die 450€ -600€, davon kann man aber nicht leben. Welche Lösungen sehen Sie?

Dr. Ete: Schwere Arbeit und dazu noch diese Stressfaktoren, die sie ein ganzes Leben lang begleitet haben, die machen einen kaputt. Deutschland hat erst vor ein paar Jahren anerkannt, dass es doch ein Einwanderungsland ist. Man muss sich von der Zwanghaftigkeit befreien, man kann nicht immer Lösungen finden und allen Menschen helfen. Das sind geschichtliche soziologische Prozesse. Aber man soll mindestens Angebote machen können.  Z.B. könnte man in jedem Altenheim eine Abteilung für Nicht-Deutsche einrichten.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Also, Sie meinen auch, es muss Beides geben? Einmal die Möglichkeit, dass Deutsche und Menschen aus anderen Ländern z.B. in Begegnungsstätten etwas gemeinsam machen können, aber es muss auch für die Leute Möglichkeiten geben, dass sie sich mit ihren alten Traditionen beschäftigen können?

Dr. Ete: Ja, aber ganz vorsichtig. Nicht wieder eine Ghettobildung im Altersheim.

Ali Eliş:  Können wir uns nicht darauf einigen, dass in den neuen Einrichtungen interkulturelle Kompetenz selbstverständlich dazugehört, dass die deutschen Senioren mit den älteren Menschen mit Migrationshintergrund leben können und ihren Alltag gestalten können? Und entsprechende Unterstützung bekommen?

Dr. Ete: Natürlich. Man muss ja davon ausgehen. Kleine Schulkinder unabhängig von der Herkunft kommen sehr gut miteinander zurecht. Erst mit der Geschlechtstrennung entstehen auch die Konflikte in der Gesellschaft. Und im hohen Alter, wenn alle Rentner sind, dann sind alle grau, dann fragt keiner mehr: „Bist du Ausländer?“ Dann gibt‘s so eine Solidarität der alten Rentner.

Ich werde z.B. einen Patienten von mir nie vergessen, den sollte ich begutachten und habe ihn in Frührente geschickt, und viele Jahre später habe ich ihn in Hamburg in einem Park mit drei weiteren Rentnern wiedergesehen. Und ich habe diese Gruppe etwas beobachtet. Alle hatten die gleiche Verhaltensweise: Eine Bierdose in der linken Hand und einen Gehstock in der rechten, saßen alle vier auf einer Bank und alle eine Prinz Heinrich Mütze auf, haben Bier getrunken und über ihre Bandscheiben gesprochen. Und plötzlich guckt einer zu dem Türken und sagt „Du Türke!“und dieser antwortet „Nichts Türke, ich Rentner“. Er hat sich quasi seinen Titel als Rentner verdient, er hat geschuftet, er ist Rentner und ist jetzt gleichgestellt. Schluss jetzt mit dem Türken. Das sagt vieles aus. Menschen möchten akzeptiert und geliebt werden. Von Geburt bis zum Tod.

Anna Müller:  Wie sieht ihre Einschätzung zur Integration der Älteren aus?  

Dr. Ete: Die Älteren haben eigentlich keine Integrationsprobleme. Weniger als die Jüngeren. Die Älteren haben was geleistet und wurden noch dafür belohnt, sie sind in Rente gegangen. Rentner finden ja auch viel schneller zueinander. Und ich bin mir sicher, dass es in den Altenheimen keine Integrationsprobleme geben wird.

Ich habe einmal in einem türkischen Rundfunk über Altenheime gesprochen und habe gesagt: „Es muss eine andere Einstellung geben, z.B. wie in Dänemark. Die Skandinavier haben die besten Altenheime. Bei denen ist es eine Tradition, ab einem bestimmten Alter, als Paar, freiwillig ins Heim zu gehen, weil die Wohnung zu groß geworden ist. Die Altenheime sind wie Reihenhäuser gebaut. Und da wohnen die Paare zusammen.“

Gudrun Münchmeyer-Eliş: Solche Einrichtungen mit Servicewohnungen gibt es in Bremen auch.

Dr. Ete: Heimbewohner sind zu 80% zwischen 80 und 90 Jahren, 10% über 90 und 10% unter 80. Also, eigentlich schafft man es bis 80, den Alltag selbst zu bewältigen oder mit Unterstützung der Kinder.

Gerade bei unter dieser Zweidrittel-Gesellschaft ist die Familie für die Unterstützung zuständig. Mich rief mal einer an und beschwerte sich, dass er seine Mutter ins „Armenhaus“ geben sollte. In Istanbul gibt es so Einrichtungen für arme Menschen. Das hatte er falsch verstanden, weil er nicht richtig zugehört hat. Er war dagegen und meinte, seine Frau würde sich um seine Mutter zu kümmern haben. Aber es ist ja offensichtlich, dass die Pflege im Heim besser stattfindet. Das Problem war in diesem Fall auch, dass die Mutter kein Deutsch spricht.

Ali Eliş:  Aber es gibt da Arbeitskräfte mit türkischem Hintergrund, die zwei, drei Sprachen können. Dafür müssen die Einrichtungen für sorgen.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Es gibt ja immer mehr Personal mit verschiedenen Sprachen aus unterschiedlichen Herkunftsländern.

Dr. Ete: Der gute Wille muss auch da sein. Die Einstellungen müssen sich der Modernität anpassen. Ein bisschen kommt es auch auf die Geldquellen an.

Anna Müller:  Können Sie etwas zum Älter werden der Eltern und die Auswirkungen sagen? Viele türkische Leute haben ihre Eltern ja nicht häufig gesehen und so nicht mitbekommen, wie diese gealtert und gestorben sind.

Dr. Ete: Das ist sehr individuell bedingt. Das Alt werden wird man dann oft nicht als Realität anerkennen, sondern als einen Schicksalsschlag. „Ach, das Schicksal hat mich so getroffen, dass ich so alt bin.“ Diesen natürlichen biologischen Prozess akzeptieren sie nicht ohne weiteres.

Bei den heutigen Alten ist es so, dass die Eltern entweder zu früh gestorben sind oder sie haben einen Brief erhalten, in dem stand „Komme sehr schnell bevor dein Vater/ deine Mutter stirbt“. Öfters konnten sie sich nur bei der Beerdigung beteiligen.

Ja, den biologischen Prozess des Alterns haben sie nicht miterlebt, deshalb fällt es ihnen schwer, das zu verstehen. „Warum sind meine Kniegelenke so steif, Herr Dr.?“ – „Hast du mal auf deinen Ausweis geguckt?“ Wir werden alt. Die Augen werden alt, der Magen wird alt, Herz, Nieren…das akzeptiert er, aber dass man insgesamt alt wird mit der Psyche und so, das versteht er nicht. Die Auseinandersetzung mit dem Tod fällt schwer. Viele kriegen Depressionen und Schuldgefühle, weil sie ihre kranken Eltern in den letzten Jahren nicht pflegen konnten. Aber hier geht‘s ja auch nicht, wenn die Tochter in Stuttgart lebt, der Sohn in Passau. Die waren in den letzten Monaten vorm Tod auch nicht dabei. So ist das in der modernen Gesellschaft.

Gudrun Münchmeyer-Eliş: Manche opfern sich richtig auf, reisen dauernd hin und her, wechseln sich ab mit der Pflege im Herkunftsland der Eltern oder Schwiegereltern. Gibt‘s denn da vielleicht eine Perspektive, dass man wenigstens diese Reise- und Visaprobleme mal lösen kann? Oder die Eltern nach Deutschland zu holen?

Dr. Ete: Das könnte man lockerer handhaben. Die Krankenkassen machen nicht mit.

Aber eigentlich, eine soziale Gleichheit herrscht eher im hohen Alter.

Ali Eliş:  Aber mit ihren Renten können sie nicht auskommen.

Dr. Ete: Aber das gilt auch für die Deutschen. Man muss die Menschen aufklären. Aber auch die eigenen Kinder könnten ihre Eltern finanziell unterstützen. Jedes Individuum muss sich auch selbst im Alter versorgen, nicht immer alles vom Vaterstaat erwarten.

Gudrun Münchmeyer-Eliş:  Das ist ganz unterschiedlich, glaub ich. Manche denken ständig, dass sie um ihre Rechte betrogen werden, etwas nicht bekommen, was ihnen zusteht. Aber es gibt auch Leute, die sich nicht einmal trauen Grundsicherung zu beantragen.

Dr. Ete: Das ist sehr schwer, ihnen Recht und Unrecht beizubringen.

Ali Eliş:  Sie sind ja auch Zeitzeuge. Wie ist Ihre Einschätzung, welche Auswirkung hat der Migrationsprozess für beide Länder gehabt? Und welche Erfahrungen haben Sie? Wie ist ihre Prognose für die Zukunft?

Dr. Ete: Zu einer gewünschten interaktionären Integration ist es nie gekommen d.h. es gibt zwei Partner. Der große Gastgeberpartner nimmt den kleinen auf und lernt von ihm was, und es kommt zu einer Synthese, das ist das sogenannte Interaktionsmodell. Das pluralistische Modell besagt, dass der eine Partner da lebt und der andere hier, und jeder macht was er will. Und das von den Deutschen bevorzugte Modell ist das Assimilationsmodell: Du lebst in Deutschland, also musst du dich auch mit der deutschen Kultur identifizieren. Wie ist es denn, wenn ich nicht Goethe lese, aber dafür Dickens oder Dostojewski, bin ich dann der deutschen Leitkultur untreu? Wie gesagt, es sind so Begriffe, die unverständlich sind. –  Der gute Wille fehlt.

Ali Eliş:  Welche Auswirkungen gab es für die türkische und deutsche Gesellschaft? Hat das nicht positive interkulturelle und auch wirtschaftliche Auswirkungen?  

Dr. Ete: Natürlich, es gibt nicht nur negative Seiten. Es findet doch eine Transaktion statt, indem Sinne wie wir es wollen, ich habe auch sehr viel von den Deutschen gelernt. Ich meine, wem es hier nicht gefällt, der kann auch wieder zurück gehen. Aber viele geben auch zu, dass sie den Deutschen für vieles sehr dankbar sind. So was stellt sich alles mit der Zeit ein.

Ali Eliş: Meinen Sie nicht, die türkische Gesellschaft hat durch die Migration große Schritte in Modernität gemacht? 

Dr. Ete: Wenn Sie mich fragen, Deutschland-Türken sind soziologisch gesehen auf einer pubertären Altersstufe stehen geblieben. Die Türken in der Türkei sind viel fortschrittlicher und moderner als die, die hier in den Ghettos leben. Diese Opferrolle hier! Ein polnischer Kollege hat mir bestätigt, dass er die gleichen Erfahrungen mit seinen polnischen Patienten gemacht hat, denn diese sind sehr fordernd: Die Deutschen haben unser Land überfallen, und wir haben ein Anrecht auf Wiedergutmachung. Polen fordern, Türken jammern.

Ali Eliş:  Aber wenn man beide Gesellschaften aus der Vogelperspektive beobachtet, haben sie nicht beide profitiert? Am Anfang hat die deutsche Gesellschaft für die Ausbildung der Arbeitsmigranten nichts bezahlt. Damals haben sie 6 Milliarden Euro Profite gehabt.  Rückblickend betrachtet haben aber auch die Türken, die hier gearbeitet haben in 30 Jahren 120 Milliarden Dollar in die Türkei geschickt.

Dr. Ete: Also, von der jungen Generation verlange ich Leistung, berufliche Ausbildung und so, aber für die ältere Generation, da müssen beide Regierungen was Menschliches leisten. Die haben geschuftet, die haben sich kaputt gearbeitet. Und wir sind denen was schuldig.

Ali Eliş: Wir haben ja mit Ihrer persönlichen Geschichte angefangen und wir können ja auch mit ihrer persönlichen Geschichte aufhören. Wie möchten Sie Ihr Rentenalter gestalten?

Dr. Ete: Ich lebe privat mit meiner Frau. Meine Leidenschaft ist das Reisen. Ich muss mindestens zwei Monate im Jahr Reisen, davon nur zwei Wochen in die Türkei. Auch Reisen und Urlaub bringt Menschen zusammen. Ich habe eine Gruppe (sechs Deutschen und drei mit türkischer Herkunft) mit der ich jährlich eine Woche segeln gehe. Wir sind dann keine Türken oder Deutschen, sondern Kumpane. Interessanterweise bin ich besser mit älteren Deutschen befreundet bei meinen Reisen. Menschen nähern sich. Und der Satz von Willy Brandt bringt es auf den Punkt: “ Es wächst zusammen, was zusammen gehört“.